Dieser Text wurde gesammelt, ausgewählt und notiert von Ernst-Otto Erhard im April 2021 und uns zur freien Verfügung gestellt. Herr Erhard ist bekannt als Autor des Buches „Von der Geschichte Leben?“, erschienen 1994 im Funkfeuer Verlag und Herausgeber des „Dinkelsbühler Gästebuches“, erschienen 2001 ebenfalls im Funkfeuer Verlag.

 

 

Der Westen der Stadt war einst eine ihrer Schauseiten. Die Besucher wurden durch einen schönen, mit einer Barockhaube gekrönten Torturm begrüßt. Heute kann dieser von einem Autotouristen, der aus Richtung Ellwangen kommt, allenfalls im letzten Augenblick wahrgenommen werden. Seine Blicke richten sich schon vor Erreichen des Südrings unausweichlich auf einige hohe Bauten, die hier seit ein paar Jahren stehen. Es gibt nicht viel zu sagen über dieses „Sondergebiet“, das durch die auffällige Bebauung eine eigene Qualität und dazu eine etwas rätselhafte Würdigung erhalten hat.

 

 

Neu errichtet wurden da (…vor dem Segringer Tor…) ein großes Hotel mit Parkhaus und ein Kfz-Schulungszentrum, alle Bauten in einer Größe und einem „Stil“, wie das jeder gesichtslosen Großstadt gut anstünde. Vergleichbare Dimensionen sollen eines Tages wohl auch ein Kinokomplex und eine staatliche Finanzschule erhalten. Die dafür nötigen Flächen hat die Stadt angeboten. Sie wurden relativ flott akzeptiert und teilweise auch schon bebaut. Aber: hat damit Dinkelsbühl die „Verabschiedung vom Kleinstadt-Status“ „verdient“, wie der Oberbürgermeister formulierte (FLZ 13.2.2021)? Welch große Bedeutungslast wird da den vor die alte Stadt platzierten modernen Bauten zugesprochen!

 

 

Anders verstand die gegebene Situation ein Tourist. Das „Sondergebiet“ im Westen (…vor dem Segringer Tor…) war für ihn Ausdruck einer Gegenwart, wie er sie anderswo auch schon erlebt hatte. Dann, nach Durchquerung des Tors überraschte ihn mit einem Mal die Präsenz alter Geschichte. Die Stadtmauern rings um die alte Stadt standen für ihn wie die Anführungszeichen in einem literarischen Text, die Stadt selbst erlebte und empfand er als originales Zitat der Vergangenheit, das es zu genießen und zu bestaunen galt, wie es sonst nirgends möglich ist. – Andere Besucher nennen das von den Mauern geschützte Städtchen ein Juwel, dessen Fassung, d.h. primär das „Sondergebiet“, die Teilhabe an dem Namen Dinkelsbühl gar nicht verdiene.

 

 

Ein Wort zum architektonischen Erscheinungsbild der Altstadt, das von Touristen als urbanistisches Juwel bezeichnet wird: dieses hat ein wenig von seinem Glanz eingebüßt. Ein Anlass zu dieser Feststellung ist das Thema Gauben. Kaum eine Nummer der Fränkischen Landeszeitung erscheint, in der darüber keine Notiz zu lesen ist, sei’s in einem verärgerten Leserbrief, sei’s als „heiße“ Nachricht aus dem Stadtrat. Dinkelsbühl hat sich bereits den Spitznamen Gaubenstadt zugezogen.

 

 

Mag es eine alte, einst wohlproportionierte Scheune mit Kuhstall sein, die, bewohnbar gemacht, auf ihrem Dach mit 17 Gauben bestückt wurde, oder ein zweistöckiges Wohnhaus, dessen Dach auf zwei weiteren Stockwerkshöhen mit 12 Gauben „angereichert“ wurde. Deren Zahl ist in den letzten Jahren inflationär geworden, nicht selten entgegen der Städtischen Baugestaltungsordnung errichtet, aber immer wieder trotz begründeter Einwände im Stadtrat mit einer Sondergenehmigung „durchgewunken“. Ohne hier die ganze Diskussionsbreite darzustellen, sei nur gesagt: Die Wohnraumbeschaffung auf Dachhöhe, mag für den einzelnen Hausbesitzer oder einen der allgegenwärtigen Investoren und Spekulanten ein pekuniäres Plus bringen, aber in ihrer Menge beschädigt diese Nasenarchitektur das geschichtliche Bild der Stadt; diesem allein aber verdankt Dinkelsbühl seinen Ruhm und seine Attraktivität für Besucher von auswärts.

 

 

Mit der Teilhabe am Weltkulturerbe wären solche architekturhistorischen Sünden leicht zu verhindern, aber den Vorschlag, sich um diese Würde zu bemühen, lehnte das Rathaus ab. (Jetzt scheint sich Rothenburg darum zu bewerben.) Nicht einmal Focus könnte wohl den viel zitierten Spot von der „schönsten Altstadt Deutschlands“ wiederholen, wenn die Zeitschrift in diesen Tagen einmal einen qualifizierten Besucher als Tester schicken sollte.

 

 

Auch auf anderem Gebiet wurde die Rücksicht auf die urbanistische Qualität unseres Stadtbilds vernachlässigt. Eine der frühen städtebaulichen Veränderungen des neuen Jahrtausends in der Altstadt betrifft das sog. Brauhausgelände am Dönersberg. Dort geschahen schon in den zwanziger Jahren Bausünden, die damals bereits vielfach diskutiert und kritisiert wurden. Als Ende des letzten Jahrhunderts das Brauwesen an dieser Stelle nicht mehr betrieben wurde, bot sich nach der Jahrtausendwende die Möglichkeit, eine städtebaulich akzeptable Lösung auf diesem Terrain zu finden. Den Vorschlag, diese Aufgabe einem Architektenwettbewerb anzuvertrauen, hielt das Rathaus für zu kostspielig. Die jetzt von der Stadt durchgeführte Bebauung orientierte sich in einigen Punkten noch an dem umstrittenen Vorgängerensemble, verpasste den neuen Bauten aber zusätzlich einen unnötigen modernen Touch, der allgemein so wenig Anerkennung fand, dass auf einer in der Nähe aufgestellten Tafel eine rechtfertigende Erläuterung des neuen Entwurfs nötig erschien.

 

 

Die städtebaulichen Tendenzen, die in solchen Veränderungen erkennbar wurden, waren ein Ärgernis für manchen Bürger, und es bildete sich ein Kreis, ein Verein engagierter Frauen und Männer, der sich den Namen ProAltstadt gab, dem es um eine möglichst sorgfältige Bewahrung des historischen Kerns zu tun war. Für den Herbst 2017 plante die Stadt die Durchführung eines sog. City Outlet. Vorgesehen war die Errichtung von etwa 40 neuen innerstädtischen Läden, dazu, durch höheres Käuferpublikum, eine Steigerung der touristischen Attraktivität Dinkelsbühls. ProAltstadt fürchtete massive Eingriffe in das Ambiente der Stadt und versuchte gegenzusteuern. Tatsächlich scheiterte das City Outlet, vor allem am Widerstand der Bevölkerung.

 

 

Wiederholte geführte Altstadtspaziergänge des Vereins suchen weiterhin die Sensibilität der Bürger für die historischen Qualitäten der Stadt zu beleben. (Vom Historischen Verein und vom Ortskuratorium der Deutschen Stiftung Denkmalschutz ist in solchen Zusammenhängen wenig zu hören oder zu lesen.)

 

 

Im Übrigen: Die Zahl der Touristen, zumal der Kulturtouristen, um die es einer Stadt wie Dinkelsbühl ja eigentlich geht, stieg auch ohne City Outlet kontinuierlich, wie einige Zitate belegen: Noch 1975 schrieb Herbert Schindler in seiner einst berühmten Monographie Die Romantische Straße: „‚Dinkelsbühl ist auch schön‘, sagt man so leicht hin, wenn allzu sehr von Rothenburg geschwärmt wird. Aber es ist – auf den ersten Blick – anders als Rothenburg. Eine Stadt mit Alltag, in der es keine ausschwärmenden Touristen gibt, sondern mehr Einzelbesucher. Und noch kann man auch parken.“

 

 

Schon 1988 hat sich da einiges geändert. Der bekannte Berliner Schriftsteller Rolf Schneider schreibt in den Fränkischen Notizen des Bayerischen Rundfunks: „Rothenburgs Gnade und Fluch besteht in seiner sorgfältig rekonstruierten musealen Altertümlichkeit. Deren ebenso natürliches wie ausschließliches Ziel aber ist die Animation von zahlenden Besuchern.“ (und über Dinkelsbühl:) „…es hat viel vom unzweifelhaften Charme der Stadt über der Tauber, ohne deren Hybris und Heimsuchung zu teilen. Auch diese Stadt ist winkelig und alt, hat zahllose schöne fränkische Türme, hat buckeliges Pflaster und farbenbunte Fachwerkfassaden, selbst Touristen sind reichlich vorhanden, aber es sind doch nicht so bestürzend viele wie in Rothenburg, und auch der penetrante Eindruck, die Stadt existiere recht eigentlich bloß um ihrer historischen Reminiszenzen willen, als eine Art steriler kulturgeschichtlicher Freizeitpark, will mir in Dinkelsbühl nicht aufkommen.

 

1994 war in einem Buch des Funkfeuer Verlags unwidersprochen von der Gefahr einer „Rothenburgisierung“ unserer Stadt im Sinn der obigen Zitate zu lesen. Und 2020 stellte der langjährige Leiter des Stadtarchivs, Gerfrid Arnold, in seiner Stadtgeschichte fest: „Ein drohender Übertourismus mit Besuchermasse, statt -klasse, einhergehend mit Hotelbauten in der Altstadt und Möblierung der Straßen ist spürbar“. Zudem, so ergänzt er, schwinde die Besonderheit Dinkelsbühls, „wenn Wirtschaftlichkeit, genormte Baugestaltung und Tourismus der Gradmesser sind. ‚Fünf vor zwölf‘ scheint bei der vor Jahren noch außergewöhnlichen Altstadt allerdings bereits vorbei zu sein.

 

 

Resümee:  Als König Ludwig I. von Bayern, ein Liebhaber der Geschichte, beeinflusst auch von der damals aktuellen Romantik, 1826 die Stadtmauer zu bewahren befahl, erntete er bei den Dinkelsbühlern nur Ärger und Unverständnis. Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts merkten diese, dass „Romantik“ auf auswärtige Besucher zunehmend attraktiv wirkte und auch kommerzielle Vorteile brachte.
Heute nun scheint solches Kommerzdenken andere Überlegungen in den Hintergrund zu stellen und vergessen zu lassen, dass nur die bewahrende („romantische“) Pflege des Stadtbilds eine weitere Aussicht auf touristische Besucher bieten kann.